Die alten Gesänge der Hildegard von Bingen und Sofia Gubaidulina von der Cellistin für Cello solo arrangiert, neue Werke für Hildegard und das Cello von Lisa Streich, Esaias Järnegard, Martin Rane Bauck und Joseph Andrew Lake im Dialog.
- Hildegard von Bingen O frondens virga
- Sofia Gubaidulina Aus den Visionen der Hildegard von Bingen
- Esaias Järnegaard à Sibyl – Mǒnē
- Hildegard von Bingen Aer enim volat
- Martin Rane Bauck The air form afar
- Lisa Streich FLEISCH
- Hildegard von Bingen O splendissima gemma
- Joseph Andrew Lake I am a clock
- Lisa Streich KOLON
- Hildegard von Bingen O eterne deus
MusikTexte 166 – August 2020, 93
Max Nyffeler
Beckmesser’s Choice
Ausgewählte Scheiben neuer Musik
Huldigung an Hildegard
Die CDs der Weimarer Cellistin Christina Meißner zeichnen sich durch eine originelle, oft thematisch gebundene Werkauswahl aus. 2008 standen Bach, Elliott Carter und Artur Schnabel neben Arrangements von mittelalterlichen Troubadourgesängen. Und auch ihre neueste, in einem Kirchenraum aufgenommene CD-Produktion blickt nun auf das zwölfte Jahrhundert zurück. Unter dem Titel „Ispariz“ („Geist“) vereinigt sie sechs Kompositionen, die sich alle in irgendeiner Weise auf Hildegard beziehen und mit Originalmelodien der komponierenden Heiligen abwechseln. Wobei das Wort „original“ mit Vorsicht zu genießen ist; die Wissenschaft ist geteilter Meinung über die Echtheit vieler ihr zugeschriebener Stücke. Aber sei’s drum. Wie die Cellistin mit diesen Vorlagen umgeht, verrät eine große Souveränität in der Gestaltung der Linie. Sie führt einen lebendigen Dialog mit dem Raum. Konzentriert horcht sie den Klängen nach, die sich schwebend, im ruhigen Rhythmus des Atems, im Raum ausbreiten. Eine meditative, entspannte Atmosphäre prägt auch die Interpretation der neuen Stücke. Sie stammen von Sofia Gubaidulina, Esaias Järnegard, Martin Rane Bauck, Joseph Andrew Lake und Lisa Streich. Letztere ist gleich mit zwei Werken vertreten. Sie und die Cellistin sind offensichtlich Geistesverwandte, denn die Stücke der drei Männer kamen auf Streichs Empfehlung in dieses Doppelalbum.
ISPARIZ – eine Vision, Christina Meißner, Violoncello, Altenburg: Querstand, 2020.
FonoForum November 2020
Dirk Wieschollek
Nachrichten aus dem Inneren
Neuerscheinungen zeitgenössischer Musik zwischen Kontemplation und Experiment
Die Weimarer Cellistin Christina Meißner bringt mit schöner Regelmäßigkeit alte und neue Musik in beziehungsreich kreierten Solo-Programmen zusammen. Ihre aktuelle Auseinandersetzung mit Hildegard von Bingen verkörpert gleich in doppelter Weise einen Gegenentwurf zur momentanen Reizüberflutung in Leben und Kunst: Meißner hat zum einen Gesänge der komponierenden Universalgelehrten atmosphärisch gewinnbringend für ihr Instrument eingerichtet. Diese bilden dann in „Ispariz“ („Geist“ in Bingens „Lingua Ignota“) die spirituelle Basis für kontemplative Auftragswerke. Die tauchen tief in die Klangformung ab, ohne dabei in Stereotypen „unkonventioneller“ Artikulation zu verfallen. Der schwedische Komponist Esaias Järnegard verbindet in „à Sibyl – Mone“ (2019) Augenblicke musikalischer Ekstase mit schamanischem Einsatz der Stimme zu einem quasi archaischen Klangritual. Die schon dort elementaren Gesten an den Rändern der Wahrnehmbarkeit werden auf die Spitze der Dünnhäutigkeit getrieben in Martin Rane Baucks „The air from afar“ (2018). Auch Lisa Streich ist bekannt für ihre spirituell inspirierten Klangdramaturgien: „FLEISCH“ (2017) widmet sich mit harten perkussiven „Nagel“-Schlägen, schreienden Eruptionen und fiebrigen Obertongeweben der Kreuzigung als Schmerzzustand, an dessen Ende in fahlen Dissonanzen die Entrückung steht. Ein Werden und Vergehen brüchiger Oberton-Klanginseln bestimmt auch „I am a clock“ (2018) von Joseph Andrew Lake, ein Ein- und Ausatmen von Klang in völliger Entzeitlichung, das minimalistischer kaum denkbar ist. Über allem aber schwebt der visionäre Geist der Lobgesänge Hildegard von Bingens, Einladungen zur Kontemplation, deren zerbrechliche Mischwesen aus Ton- und Geräuschklang Christina Meißner so intensiv und zugleich mikroskopisch ausdifferenziert spielt, dass man jede einzelne Faser der „Materie“ Cello zu hören glaubt.
Karfunkel 142
Barbara Stühlmeyer
In Dir singt und spielt der Heilige Geist
Neue Zugänge zu Hildegard
Ispariz ist ein Wort aus der Lingua ignota, der unbekannten Sprache Hildegards von Bingen, der sechste in der Reihe jener Begriffe, die Hildegard, die auf so vielfältige Weise Lichtnetzwerke aus Worten und Tönen wob, kreierte. Geist, Heiliger Geist steht nach Gott, Engel, Heiliger, Erlöser und Teufel und vor Mensch. Schon mit dieser Ordnung macht die Visionärin klar, in welchem Bezugsfeld menschliches Leben sich abspielt. Hildegards Schriften sind schauende und sprechende, ihre Musik klingende Theologie. Und genau dies wird auch in der vorliegenden Doppel CD deutlich, auf der Christina Meißner, renommierte Cellistin, mit ihrem Instrument nicht nur Kaskaden differenzierter Tonwelten hervorbringt, sondern Räume schafft, in denen klangliches Erleben neue Welten öffnet. Auf zwei Tonträgern kombiniert Meißner Hildegards Werke, die dem Cello natürlich sind, weil dessen der Stimme so eng verwandter Klang ihre Umsetzung geradezu zwingend nahelegt, mit zeitgenössischen Kompositionen. Deren oft hochkomplexe Textur verträgt sich auch deshalb so gut mit dem Oeuvre Hildegards, weil ihre Gesänge als klanggewordenes Gebet fokussierende Kraft entfalten, kristallisiertes Leuchten ausstrahlen, das in das Weite Land der Seele führt. Tatsächlich wird in Meißners Spiel – einer kongenialen Umsetzung eines Wortes aus Hildegards Gesängen: „in dir singt und spielt der Heilige Geist, denn du bist den Chören der Engel zugesellt“ – die enge Verwandtschaft der von ihr präsentierten Werke deutlich, die ihre Wurzeln in der Spiritualität haben. Dies gilt für Sofia Gubaidulinas „Aus den Visionen der Hildegard“, dessen Entstehungsprozess für die russische Komponistin wie ihr tonschöpferisches Tun überhaupt, Gebet war, ebenso wie für die von Meißner in Auftrag gegebenen Werke von Esaias Järnegard, Martin Rane Bauck, Lisa Streich und Joseph Andrew Lake. Das neue CD Projekt von Christina Meißner heißt nicht nur „Ispariz. Eine Vision“, es verkörpert tatsächlich eine – gottlob hörbare – Vision einer Art des Musizierens, die hochkünstlerisch und zugleich nicht artifiziell, sondern vollkommen natürlich ist, da Meißner auf eine tiefe Weise von innen her durchdringt, was sie spielt und so selbst zum Instrument der Werke wird, die sie gemeinsam mit ihrem Cello erklingen lässt. Das Ergebnis ist faszinierend, inspirierend und zeigt deutlich, warum Kultur zu jeder Zeit, aber gerade heute Not-wendig ist: sie öffnet die irdische Wirklichkeit für die Kraft des Geistes – Ispariz.
MDR KULTUR Spezial am 25. Mai 2020
Claus Fischer
Und jetzt, Claus Fischer, was ganz Spezielles, eine Doppel-CD für Solo-Cello mit ausschließlich Neuer Musik…gewagt…
CF
Ja, das hat mich zunächst auch sehr verwundert! Also ich dachte mir, als ich das Album in Händen hatte, ob das wirklich geht? Also verkaufstechnisch ist es sicher recht gewagt, was das Altenburger Label querstand da gemacht hat, aber inhaltlich absolut faszinierend! Solistin ist die Cellistin Christina Meißner, die in Weimar zuhause ist, und die sich in letzten zwanzig einen sehr guten Ruf als Interpretin von Gegenwartsmusik erworben hat. Und die hier nun ihr erstes Solo-Konzept-Doppel-Album vorlegt, Titel ISPARIZ…
Mod
Was heißt das und was ist das Konzept?
CF
Ispariz kommt aus dem okzitanischen und bedeutet so viel wie „Geist“, also „Esprit“ kommt auch daher. Ja, und Christina Meißner hatte eine Vision. Sie hat nämlich visionären Gesänge der Nonne und Kirchenlehrerin Hildegard von Bingen aus dem 12. Jahrhundert ausführlich studiert. Das sind natürlich Gesänge auf Lateinisch für Frauenstimmen, also Gregorianischer Choral, zum Teil auch schon früh mehrstimmig. Und Christina Meißner kam nun auf den Gedanken, diese Gesänge für Solo-Cello zu bearbeiten und aufzuführen. Und die ziehen sich wie ein roter Faden durch diese CD…
Mod
Und das funktioniert wirklich?
CF
Absolut! Ich war selbst auch eher skeptisch, da ich als großer Freund mittelalterlicher Musik eigentlich Purist bin, also Bearbeitungen, noch dazu für moderne Instrumente, sind mir eigentlich suspekt. Aber Christinas Meißner trifft den Ton Hildegards perfekt. Fünf Gesänge bilden den roten Faden für die CD, die dazu sechs Werke von Gegenwartskomponisten enthält. Also ich würde mal den Hildegard-Gesang mit Christina Meißner vorstellen, der mich beim Hören am meisten beeindruckt hat: O eterne Deus, O ewiger Gott.
Spezial Musik Klassik 3 ISPARIZ - Hildegard von Bingen (2:25)
Mod
Eine Frau, ein Cello und eine mittelalterliche Komponistin – Christina Meißner spielte ein Werk von Hildegard von Bingen, zu finden auf der neuen CD mit dem Titel ISPARIZ…
CF
Unglaublich beeindruckend! Man denkt an einigen Stellen, dass da zwei oder drei Celli zusammenspielen. Also Christina Meißner singt mit ihrem Bogen mehrere Stimmen quasi, das Cello ist ja ein Instrument, mit dem man ganz wunderbar singen kann, das haben mir mehrere Cellisten im Interview schon bestätigt. Und diese Hildegard-Bearbeitungen sind allesamt absolut hörenswert, bei mir verursachen sie an einigen Stellen Gänsehaut…
Mod
Nun ist das Ganze ja eine Doppel-CD. Sie sagten, Claus, die Gesänge ziehen sich als „roter Faden“ durch, was ist sonst noch zu hören?
CF
Ein ganzer Kosmos an modernen Werken für Solo-Cello, größtenteils Werke, die für Christina Meißner komponiert worden sind. Die würden den Rahmen dieses Spezials zeitlich und auch stilistisch leider sprengen. Aber sie zeigen, was Christina Meißner mit ihren Hildegard-Bearbeitungen erreichen will, nämlich zwischen diesen modernen Werken Ruhepunkte zu schaffen, in denen sich der Hörer erholen kann und sich für neue experimentelle Klänge öffnen kann, und das funktioniert, finde ich sehr gut…
Mod
Dann bitte noch ein paar experimentelle Klangeindrücke…
CF
Gerne! Es gibt ein Werk auf der CD, das nur eine Minute lang ist, von der Komponistin Lisa Streich, es heißt Kolon, also Doppelpunkt, und das zeigt schon, dass es danach weitergeht, also ein Gedankensplitter, und den hören wir jetzt.
Spezial Musik Klassik 4 ISPARIZ - Lisa Streich, KOLON (1:00)
Mod
„Kolon“, eine Komposition von Lisa Streich mit der Weimarer Cellistin Christina Meißner, die CD heißt ISPARIZ und ist beim Label querstand in Altenburg erschienen.
Deutschlandfunk
Redaktion: Frank Kämpfer
Die Neue Platte/Neue Musik
Autorin: Yvonne Petitpierre
Sonntag 19. Juli 2020 / 9:10 Uhr
ISPARIZ – eine Vision
Christina Meißner, Violoncello und Arrangements
Mystische Klänge
Ein Cello erkundet Hildegard von Bingen
Als Kultfigur des Mittelalters prägt die Universalität der Hildegard von Bingen auch die Musikgeschichte. Ihre Lieder und Gesänge haben die Cellistin Christina Meißner zu einem Projekt inspiriert, dass an die Zeitlosigkeit der Mystikerin appelliert und gleichzeitig Komponisten der Gegenwart zu einer Stellungnahme auffordert. Beim Label Querstand ist soeben die ungewöhnliche Doppel-CD Ispariz – eine Vision erschienen.
Am Mikrophon Yvonne Petitpierre. Hildegard von Bingen, 1098 geboren, gilt bis heute als eine von Mythen umrankte Erscheinung in der deutschen Geschichte. Ihr visionäres Charisma und ihre aktive Teilnahme am öffentlichen, politischen und kirchlichen Leben scheint beispielhaft für die Emanzipation der Frauen. Als Universalgelehrte überschreitet sie Grenzen, die ihr als Frau von der patriachalen Kultur des christlichen Mittelalters gesetzt wurden. Mensch, Umwelt, Leib und Seele, alles steht laut Hildegard in stetiger Verbindung zueinander und darin wurzelt ihre immerwährende Aktualität. In ihrer spirituellen Gedankenwelt spielt auch die Musik eine maßgebliche Rolle, der sie sich als Autodidaktin zeitlebens intensiv gewidmet hat. Musik begreift sie als Suche des Menschen nach der Stimme des heiligen Geistes.
Jenseits der Zeitgrenzen
„Ich verfasste und sang Lieder und Melodien zum Lobe Gottes und der Heiligen ohne die Belehrung eines Menschen, obwohl ich niemals Neumen und Gesang erlernt hatte“, so das Selbstzeugnis der einstigen Äbtissin des von ihr gegründeten Benediktinerinnen-Klosters Ruperstberg. Als vielseitige und weitsichtige Geistliche appellierte sie stets an die Selbstverantwortlichkeit des Menschen. Gesang steht für sie in unmittelbarem Kontext der Gottesverehrung und ist immer auch Teil göttlicher Eingebung. Die Cellistin Christina Meißner fühlte sich inspiriert, diesen Geist, also ISPARIZ zu bewahren und auf die aktuelle Zeit zu übertragen. Vor diesem Hintergrund hat sie unter dem gleichnamigen Titel ISPARIZ - eine Vision ein Projekt konzipiert, in dem sie Gesänge der Hildegard von Bingen für Violoncello arrangiert und mit Musik der gegenwärtigen Komponistengeneration konfrontiert hat. Mit ihrem Rückgriff auf die mittelalterlichen Gesänge möchte Christina Meißner einen Gegenpol zur oft hochkomplexen zeitgenössischen Musik bilden. Die Nähe des Cellos zur menschlichen Stimme haben ihr die Arrangements nahegelegt, für deren Konfrontation sie diverse Kompositionen in Auftrag gegeben hat. Alle Werke werden hier als Weltersteinspielung in klanglich sinnlicher Interpretation und exzellenter Aufnahmequalität vorgestellt. Die CD eröffnet mit dem Gesang O frondens virga, dessen Text die Ehrfurcht des Menschen vor den Wundern der Schöpfung und Natur thematisiert. Musikalisch dominiert eine schlichte Melodie, die im Arrangement durch Christina Meißner noch intensiviert wird.
Ein erster Gegenpol zu diesen Raum greifenden Klängen kommt von Sofia Gubaidulina. 1994 und 2019 hat sie aus einer gefühlten Seelenverwandtschaft das Stück Aus den Visionen der Hildegard von Bingen für Alt solo komponiert und als einziges Werk dieser CD handelt es sich hier um keine Auftragskomposition. Die mental empfundene Nähe zur Universalgelehrten markiert nach eigenen Aussagen eine grundsätzlich zentrale Antriebsfeder für Gubaidulina’s künstlerisches Schaffen, denn „Komponieren ist für mich eine Art Gottesdienst. Komponieren heißt beten“. In ihrem Schaffen richtet sich der Blick häufig auf existentielle Fragen, wenn sie ein „Spannungsfeld aus expressiver Kraft und vertonter Stille eröffnet“, so Egbert Hiller im ungewöhnlich umfangreich informierenden Booklet zur Doppel-CD. Hildegard von Bingens kompositorischer Gestus diente Gubaidulina dabei als Ansatzpunkt. Die Vision als zentrales Moment spiritueller Erfahrung gestaltet sie in visionär konzipierten Klängen, die sie ihrem Komponistenkollegen Alfred Schnittke zu dessen 60. Geburtstag widmet.
Klang als Form der Existenz
Die, in Weimar lebende Cellistin Christina Meißner sucht für ihre Programme vorzugsweise nach grenzüberschreitenden Verbindungen zwischen alter und neuer Musik, die fasziniert und in den Bann ziehen kann. Mit Ausnahme des, sich explizit auf Hildegard von Bingen beziehenden Stückes von Sofia Gubaidulina, sind alle anderen Kompositionen innerhalb der letzten drei Jahre im Auftrag der Solistin entstanden
Ein Spiel mit unterschiedlichen Gegensätzen reflektiert der schwedische Komponist Esaias Järnegard, Jahrgang 1983 in seinem Cellostück à Sybil –Mōnë. Im Zentrum stehen Konfrontationen von existierenden Zuständen, die er zu verbinden sucht. Hoffnung und Trostlosigkeit oder Resignation und schreiendes Aufbegehren begegnen hier dynamisch variantenreich. Acht kurze Sätze fügen sich zu einem Ganzen. Klänge, die Järnegard als Zustand des Seins begreift, erkundet er hier in geheimnisvollen Räumen, in denen „Vergangenheit und Gegenwart durch die Hände und den Cellokörper der Interpretin ins Schwingen geraten sollen“.
Der Komponist will so eine mystischere und ursprünglichere Sphäre betreten. Neben dem Cello kommt hier auch Christina Meißners eigene Stimme zum Einsatz.
Die Dramaturgie der klangintensiven Einspielung, die trotz hochkontemplativer Momente auch mit dynamisch exzessiven Ausbrüchen konfrontiert, integriert erneut ein Lied der Hildegard von Bingen, das sich dem Lob Gottes verschreibt. Aer enim volat überträgt Christina Meißner mit großer auratischer und klanglich dichter Intensität auf das Cello, um den Atem als Lebensspender hörbar zu machen.
Nicht greifbar
Nach diesem atmosphärischen Moment greift die Cellistin auf eine Komposition des Norwegers Martin Rane Bauck, Jahrgang 1988 zurück. Sein Interesse gilt neben Texten von Franz Kafka der elektronischen Klangerzeugung, die er auf akustische Instrumente überträgt. The air from afar, so der Titel, arbeitet mit fixen Tonhöhen sowie Geräuschen, wobei das Cello husten, atmen und singen soll. Hildegard von Bingens Überlegungen zum Wesen der Musik lieferten ihm für das Stück einen wichtigen Impuls. Im Geräusch der Klänge möchte er für sich die Möglichkeit entdecken, mit fernen Liedern, fernen Stimmen, ferner Luft und einem mythischen Ursprung in Kontakt zu treten.
Zwischen Kreuzigung und Erlösung
Die schwedische Komponistin Lisa Streich, 1985 geboren, versucht ihrer tief empfundenen Spiritualität auf klanglicher Ebene Gestalt zu geben. Für das Projekt ISPARIZ, eine Vision, an dem sie auch hinsichtlich der beteiligten Komponisten beratend mitgewirkt hat, präsentiert sie zwei Kompositionen, die Stellung beziehen. Unter dem Titel Fleisch fasst sie Aspekte der Kreuzigung mit äußerst eindringlich pochender Intensität und lässt den Schmerz geradezu physisch erlebbar werden. Nach eigenen Aussagen versucht Streich „sich auf die Schnittstelle zwischen menschgewordenem Fleisch und metallenem Nagel zu konzentrieren“. Gegen Ende lässt ihre zunehmend zarter werdende Musik aber auch Kontemplation und Raum für eine Art Trost erkennen.
Ein Moment entscheidet
Im Mittelpunkt der zweiten CD dieses Doppelalbums steht das knapp 30 minütige Werk I am a clock des 1979 in Amerika geborenen Joseph Andrew Lake. Seine Kompositonssprache fokussiert vor allem den innermusikalischen Prozess einzelner Klänge zwischen Er- und Verklingen. Bookletautor Egbert Hiller verweist auf Lake’s unbeirrbare Geduld, mit der er „in Gefilde beständigen Suchens eintrete, um an jedem Punkt der Entstehung eines Stückes durch genaue Kontrolle und geistige Reflexion aus der Vielfalt der Möglichkeiten die einzig richtige herauszufiltern“. Seine Komposition beschreibt Christina Meißner als Zeitlupenakrobatik. Alles wirkt beinahe statisch und entwickelt in metrischen Rastern einen meditativen, fast sogartigen Gestus.
Soweit abschließend noch ein Ausschnitt aus I am a clock von Joseph Andrew Lake Vorgestellt wurde Ihnen heute das Projekt ISPARIZ-eine Vision von und mit der Cellistin Christina Meißner. Liturgische Gesänge und Melodien zum Lobe Gottes aus der Feder von Hildegard von Bingen werden auf dieser CD mit zeitgenössischen Auftragswerken kombiniert.
Alle Werke sind als Weltersteinspielung beim Label Querstand, der Verlagsgruppe Kamprad erschienen. Sie hörten einen Beitrag von Yvonne Petitpierre. Unter www.deutschlandradio.de können Sie diese Sendung noch 7 Tage lang nachhören. Oder darüber hinaus auf dieser Soundcloudseite:
https://soundcloud.com/christina-meissner/isparizdlfyvonne-petitpierre
TEMPO
Juli Zhu
Spirit. Or Ispariz, in Hildegard von Bingen’s invented language. Reader: allow a sincerity this once—there really is that intangible, the shadow of the invisible in Christina Meißner’s album of solo cello music. Beautifully mastered, dancing between Meißner’s own transcriptions of Hildegard’s twelfth-century vocal music and the sonic physicality of newly commissioned pieces, ISPARIZ. eine Vision is an extraordinary performance as well as an irenic, crafted experience.
The album is treated as such: one holistic artwork. From the first piece to the last, each Hildegard transcription creates space for the next new work, which echoes the Hildegard that just left our ears. All of which is of course intentional—Meißner communicated to the composers the specific Hildegard songs that perfumed her world. Et voilà, a through line of inspiration was established at the very beginning of the compositional process.
The first recording is Hildegard’s O frondens virga (O blooming branch) that literally bloomed in its large acoustic, ornamented by peripheral bird sounds around the gothic Løgumkloster Kirke in Denmark. The leaps in the song push and explore the massive space, the correct setting to allow the majesty in ancient music to breathe, while the bird sounds ground our imagination in a specific place, obviously existing in our current time—straddling old and new.
Next is Sofia Gubaidulina’s Aus den Visionen der Hildegard von Bingen, written in 1994 for Alfred Schnittke, which retains the same initial leap in the Hildegard, but it expands from the vocal range to the sonic realms of the cello, leaping larger and larger intervals, from the lowest notes of the cello to almost pious harmonics. Long leaps are metaphorical of faith, in divinity or simply in the cellist’s ability to grab onto the note. In the performance, one hears Meißner’s embodiment of the piece, the confidence and knowing, which she jokingly describes as being “a bit drunk in the hand.”
In the third piece titled à Sibyl – Mǒnē, by Esais Järnegard, the timbre is expanded even further with a palette of extended technique and the introduction of Meißner’s voice. Continuous glissandi between microtones in the lowest register echo the melismas of plainchant. It appears that this particular piece was closer mic’ed, picking up elements of the body—cello and human— hair, skin, wood. The guttural circular bowing around the bridge delves into explicit materiality, while also forcing the higher overtones to sparkle over the texture.
This trio of pieces is a perfect introduction to the album. Together, they first offer the space, context and architecture, then they open up the pitch material, and finally, they give way to density and texture, arriving at a world where reverberation and repetition rise above rhythmic variation, where one has to submit to an exposed pulse.
Closing out the first CD are two pairs of pieces, forming a direct dialogue between Hildegard and newly composed pieces. Martin Rane Bauck’s The air from afar is based on Hildegard’s Aer enim volat (for the air is fleet) and about “putting oneself in contact—through the noise of noise—with distant music, distant songs, distant voices, distant air—with a mythic beginning, and with the 12th-century hymn of Hildegard.” The piece is a series of exhalations, brisk upbows with marvelous momentum. The dry agility of the bow is apparent in the recording—it becomes like breath. The delicacy of hair is juxtaposed by the other side of the bow in the next piece. Lisa Streich’s FLEISCH starts with the wood of the bow hitting muted strings with fortissimo. Seemingly an extreme prolation of Hildegard’s O splendidissima gemma (O jewel resplendent), the repetitive battuto beating forces the listener to tune their ears to the changing higher overtones, convincing the percussive hit to lie instead in a place of meditation. During performance, Meißner’s lifted or dropped head indicates the transformation from internal to external, from playing for oneself to playing for the world. Again, the exquisite curation comes through in this quartet of pieces, from the transition between The air from afar and FLEISCH to the bookending Hildegard songs.
The second CD is another such quartet, beginning and ending with Hildegard songs, and in between, Joseph Andrew Lake’s I am a clock, and a second Lisa Streich, the miniature, coda-like KOLON. At just over 26 minutes, I am a clock is the centerpiece of the second half of the album and relies upon the sonic baptisms of the first half. The first note is held for exactly 60 seconds, and for the rest of the piece—almost entirely made up of dyads whose lengths are determined not in beats but by the length of bow and dynamics—time passes as events do in nature: constantly yet not always consistently. While sharp rhythm grabs, this alternative, stochastic meter lets go. There is a natural ebb and flow—one comes to it, as it does not seek attention. In live performance, however, there is the curiosity of the bow playing above the left hand nearer the nut, or between the fingers of the left hand, which unfortunately cannot be shown in a CD. It is appropriate that I am a clock feels like the culmination of an album—there’s an interiority present that seems to be Meißner’s overall message.
According to Meißner, the highest validation is when after a concert of the album, often in the same considered order, the audience does not clap after the last piece, Hildegard’s O eterne deus. They do not react, still internalizing. I am similarly stunned, and cannot recommend this album enough. To discover such mature compositional voices and ardent performance on an unfamiliar label—for that I am grateful. I hope more albums adopt Meisßner’s approach, pairing old with new, with the same studied attention to extramusical space and purpose.